Tour de Natur:

 interessante Pressenotizen 


17.10.2001 (Mit freundlicher Genehmigung von 'Freies Wort')

VERKEHRSWISSENSCHAFTLER WARNT VOR ÜBERTRIEBENEN ERWARTUNGEN

Das Prinzip Hoffnung als eigentlicher Bauherr

Politik-Placebo Autobahn? Für den Aufschwung durch Fernstraßen gibt es nicht nur in Thüringen wenig Belege

VON REDAKTIONSMITGLIED
JENS VOIGT


Neue Verkehrswege bekommt das Land. Rollt auf ihnen der Aufschwung oder die Abwanderung?
Experten sind sich einig: Neue Straßen sind kein Allheilmittel.
FOTO: ari

Der Aufschwung braucht Autobahnen - dieser These folgen Politik und öffentliche Meinung in den neuen Ländern so getreulich wie kaum einem anderen Leitsatz. Zweifel an den Großprojekten Thüringer-Wald- und Südharz-Autobahn gelten im Freistaat als Sakrileg.

Aber wird der milliardenteure Fernstraßenbau tatsächlich massenhaft Investitionen, Arbeitsplätze und also Wohlstand ins Land bringen? Dr. Matthias Gather, Professor für Verkehrspolitik und Raumplanung an der Fachhochschule Erfurt, dämpft die hoch gesteckten Erwartungen. "Der Autobahnbau allein bewirkt kein dauerhaftes Wachstum in der Fläche, sondern vor allem Umstrukturierungen in den betroffenen Regionen. Dabei wird es Gewinner und Verlierer geben. "Vor zwei Jahren haben Gather und seine Mitarbeiterin Kirsten Bartsch eine Studie über regionale Effekte des Fernstraßenbaus in den neuen Bundesländern abgeschlossen und dabei auch Untersuchungen zum selben Thema aus der alten Bundesrepublik, Italien und der Schweiz ausgewertet. Die Bilanz fällt karg aus: Mal konnte "ein signifikanter Zusammenhang" zwischen Straßenausbau und Wirtschaftsentwicklung "nicht festgestellt" werden, mal lieferten die erzielten Resultate "keine statistische Unterstützung" der Betonier-Hoffnungen. Der mit Abstand positivste Befund stammt aus dem Jahr 1974 und betrachtete die A 5 zwischen den Städten Brühl und Freiburg (Breisgau): Sechs Prozent des regionalen Wirtschaftswachstums im Zeitraum von 1955 bis 1970 wurden der Autobahn zugerechnet.

"In den alten Bundesländern herrscht unter den Raumplanern schon seit Jahren Einigkeit, dass weitere Autobahnen nichts mehr bringen", fasst Gather den Stand der Erkenntnisse zusammen. Der Osten indes galt und gilt der Politik wohl auch heute noch als Fernstraßen-Brachland. Kalkulierte man im Westen, dass ein Kilometer neue Autobahn acht zusätzliche Jobs auslösen könne, so legte man für den Osten nach der Methode "Pi mal Daumen mal Wunsch" gleich 24 neue Jobs als Faustregel fest. An diesem Quotienten wird noch heute festgehalten. Obwohl auch jüngste Untersuchungen ihn nicht bestätigen.

Für die Bewertung der wirtschaftlichen und raumordnerischen Effekte der Autobahn-Neubauten hat Professor Gather Daten aus den Jahren 1994 bis 1999 zusammengetragen, gezielt also aus jenem Zeitraum, da der industrielle Umbruch weitgehend abgeschlossen war und das (Wieder-)Wachstum des ostdeutschen produzierenden Gewerbes in Fahrt kam. Insofern kann man von einem "Best case"-Szenario sprechen.

Industrieinvestitionen

Bei den Industrieinvestitionen scheint zunächst ein Zusammenhang zur Autobahnnähe zu bestehen. In den Regionen Jena, Weimar, Erfurt und Eisenach entlang der A 4 wurde teils die doppelte Summe je Beschäftigten für Maschinen und Anlagen ausgegeben wie südlich der A 4, in Ostthüringen bzw. im Eichsfeld. Entlang der A 9 jedoch lässt sich diese Differenzierung in Thüringen nicht feststellen; Regionen mit überdurchschnittlichen Investitionen finden sich erst im Raum Halle/Leipzig. Selbst das Hermsdorfer Kreuz als einziger echter Fernstraßen-Schnittpunkt weist das gleiche untere Niveau auf wie der autobahnferne Süden und Nordwesten.

Arbeitsplätze

Ein zu Teilen noch krasserer Schluss offenbart sich bei der Betrachtung der Beschäftigungsentwicklung. Für den Zeitraum 1994 bis 1999 ergibt sich im größten Teil Thüringens ein Bild der Stagnation bzw. geringfügigen Rückgangs. Größere Job-Verluste erlitten Ostthüringen, aber auch die Regionen Erfurt und Weimar mit bis zu 15 Prozent. Geradezu spektakulär auch für eine Autobahn-Aufschwung-Prognose bieten sich die einzigen Gebiete mit positiver Jobentwicklung dar. Spricht die Lage im Raum Zwickau, zwischen A 4 und A 72, zunächst noch für einen Zusammenhang von Job-Wachstum und Fernstraßen, so wirft der Beschäftigungsrekord östlich von Leipzig dieselbe These über den Haufen. Zumal Leipzig selbst, aber auch Chemnitz mit ihren Autobahnkreuzen Tiefstwerte bei der Jobentwicklung ausweisen.

Erreichbarkeit

Eines bestätigen die Statistiken sofort: Autobahnen sichern die Funktion der wirtschaftlichen Zentren. Alle größeren Städte an der A 4 ziehen Beschäftigte aus ihrem Umfeld heran. Für die A 9 ist diese Wirkung in Thüringen nicht auszumachen - mangels prosperierender Zentren. Seit die Abwanderung aus den neuen Ländern erneut ins Blickfeld der Politik geraten ist, werden neue Fernstraßen auch als Pendel-Erleichterung befürwortet. Wesentlich für eine derartige Prognose sind die Veränderungen hinsichtlich der Erreichbarkeit der so genannten Agglomerationskerne, also Wirtschaftlicher und struktureller Ballungsräume, durch die geplanten Fernstraßenbauten. Verkehrswissenschaftler bedienen sich dafür der Erreichbarkeitsmodelle. Betrachtet man den Ist-Zustand von 1992, so lag Thüringen damals zwar im "Grünen Herz" Deutschlands, jedoch zugleich im roten Bereich hinsichtlich der Erreichbarkeit. Werden sämtliche Vorhaben des Bundesverkehrswegeplans ausgeführt, ändert sich daran nur wenig: Pendler aus Nord- oder Südthüringen werden im Durchschnitt zehn bis zwanzig Minuten weniger brauchen, um einen der nächsten drei Agglomerationskerne anzusteuern. Noch kann aus Sicht der Raumplaner nicht einmal Erfurt als solcher gelten, könnte es jedoch mit dem Bau der A 71 werden. "Die Landeshauptstadt wird von der Thüringer-Wald-Autobahn profitieren, Südthüringen weniger", meint Professor Gather.

Es spreche alles dafür, so der Wissenschaftler, dass neue Fernstraßen ähnliche Effekte nach sich ziehen wie das Eintreffen der Marktwirtschaft an den bestehenden Trassen vor über zehn Jahren. "In erster Linie kommt es zu einer stärkeren Differenzierung in den Regionen. Heimische Unternehmen ziehen, wenn sie darin einen Vorteil erkennen, aus dem ländlichen Raum an die Autobahn." Ein Netto-Überschuss an Investitionen sei für größere Gebiete um die Fernstraßen nicht nachweisbar; von Ausnahmen abgesehen ergebe sich auch bei der Beschäftigung ein "teuer bezahltes Nullsummenspiel": Statt Zuzügen von Unternehmen dominieren Umzüge. Fünf bis zehn Prozent der bestehenden Firmen nutzen diese Chance, ihren Standort zu verbessern. Der Rest bleibt, wo er ist.

Wirkliche Neuansiedlungen an Autobahnen, so Gather, seien in der Nähe von bestehenden Agglomerationskernen zu erwarten, wo neben der Infrastruktur auch andere Faktoren locken wie etwa das Arbeitskräfte- und Bildungspotenzial. "Die Entscheidungen von Porsche und BMW für Leipzig sind klassische Beispiele dafür." Gewisse Hoffnungen könne man auch noch in "transportaffine Gewerbe" wie Logistiker oder Versandhäuser setzen. Wachstumsbranchen wie Kommunikation, Online-Handel oder neue Dienstleister jedoch zögen nicht auf die grüne Wiese am Betonband, sondern in die Zentren. Gleiches gelte inzwischen wieder für den Einzelhandel und klassische Dienstleister. Vor diesem Hintergrund erwartet Gather, dass vor allem Städte wie Erfurt oder auch Coburg durch die A71 bzw. A 73 einen Schub erfahren werden, während in Südthüringen eine disparate Wirkung zu erwarten sei: "Der Fremdenverkehr könnte durch einen erleichterten Tagestourismus profitieren, möglicherweise werden auch Wohnstandorte in relativer Nähe zu den Zentren aufgewertet." Für die kleineren Städte könnte dies sogar Zuzüge bedeuten, die schnellere Erreichbarkeit von Erfurt, Coburg oder Schweinfurt hätte jedoch auch schmerzliche Folgen: "Der innerstädtische Einzelhandel von Arnstadt, Ilmenau oder Suhl geht schweren Zeiten entgegen, sofern es ihm nicht gelingt, den Erlebnis-Einkaufs-Angeboten der Zentren etwas Vergleichbares entgegenzusetzen." Wenn nicht, könne es mittelfristig heißen: Der Fachhandel geht, Aldi kommt.


Nordhausen muss dann mit Göttingen konkurrieren können,
Suhl mit Schweinfurt.

Verkehrsexperte Matthias Gather


Gelegentlich drängt sich Professor Gather der Eindruck auf, dass der Autobahn-Bau vorgeschoben wird, "weil sich die Politik keinen anderen Rat weiß, um wirtschaftliche Probleme in den Regionen zu lösen". Daraus könne ein gefährlicher Placebo-Effekt erwachsen: "Irgendwann ist die Autobahn fertig, aber die meisten Strukturprobleme hat man bis dahin liegen lassen. Dann fährt der Aufschwung weiter vorbei. Nur schneller." Politik und Wirtschaft, so der Verkehrsexperte, müssten sich rechtzeitig auf eine größere kommunale Konkurrenz einstellen, Leitbilder entwickeln und umsetzen: "Nordhausen muss dann mit Göttingen konkurrieren können und Suhl mit Schweinfurt." Geschieht dies nicht, droht das, was die Wissenschaft "passive Sanierung" nennt - die Autobahn als Fluchtweg für Pendler und Abwanderer. Bis der letzte Arbeitslose einen Job im Irgendwo hat.



EXPERTENTAGUNG ZU DEN ENTWICKLUNGSCHANCEN

Von heute an befassen sich in Suhl zwei Tage lang Regionalplaner aus ganz Deutschland mit den Entwicklungschancen durch den Bau von Verkehrswegen. Die 7. Thüringer Regionalplanertagung steht unter dem Thema: Neue Verkehrswege - neue Impulse für die Region.

Die Experten wollen sich vor Ort ein Bild von den Auswirkungen der Verkehrsinfrastruktur in Südthüringen machen, man erhofft sich daraus auch Rückschlüsse auf andere Projekte zur Verkehrserschließung, etwa durch Verbindungen zu den EU-Beitrittskandidaten Polen und Tschechien.

In Südthüringen gehören die Verkehrswege seit mittlerweile zehn Jahren zu den wichtigsten Themen in der Regionalplanung. Die Regionalen Entwicklungskonzepte berücksichtigen dies unter anderem bei der Einstufung von Ballungsräumen als Ober- oder Mittelzentren. Darüber hinaus ist die Regionalplanung bei größeren Ansiedlungsvorhaben beteiligt und hat zum Beispiel auch ein Mitspracherecht bei der Planung von Einkaufszentren in benachbarten Regionen. (jwe)

 

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